Drei Wallfahrtsfeste im Judentum
Erlebnisbericht zur Veranstaltung «Pessach, Schawu’ot und Sukkot» aus der Reihe «Pilgerstätten» in der Jüdischen Liberalen Gemeinde Or Chadasch
6. Juli 2022, Claudia Geiser, interimistische Co-Leiterin Zürcher Forum der Religionen
Der zweite Anlass der Veranstaltungsreihe «Pilgerstätten» fand am 6. Juli 2022 bei der Jüdischen Liberalen Gemeinde in Zürich statt. Unter dem Titel «Pessach, Schawu’ot und Sukkot» sollten drei Wallfahrtsfeste im Judentum thematisiert werden, die an den Auszug aus Ägypten, den Empfang der Thora und die Wüstenwanderung erinnern. An diesen Festen pilgerte das jüdische Volk während der Zeit des Jerusalemer Tempels nach Jerusalem, um den Tempel zu besuchen und dort Opfer zu bringen. Rabbiner Ruven Bar Ephraïm, der an diesem Abend in die Tradition und Gegenwart des jüdischen Pilgerns eingeführt hätte, war jedoch kurzfristig erkrankt. Glücklicherweise konnte Rabbinatsmitarbeiter Omer Nevo, der den Abend sonst musikalisch begleitet hätte, für ihn einspringen.
Omer Nevo gab dem Anlass ein sehr persönliches Gepräge. Er wollte den 40 Gästen nicht einfach die Feiertage erklären, sondern sie auf eine kleine gedankliche Reise mit Texten mitnehmen und aus der Thora singen. Zu diesem Zweck verteilte er den Gästen sechs Seiten mit 12 hebräischen Texten, die er zuerst singen würde, und deutschen Übersetzungen, die auf seine Bitte hin anschliessend von einzelnen Gästen vorgelesen wurden.
Omer Nevo erklärte, dass es die Pflicht (Mizwa) gibt, während der Zeit von Pessach, Schawu’ot und Sukkot oder an einem dieser drei Feiertage nach Jerusalem zu gehen, und eine solche (virtuelle) Reise nach Jerusalem unternahmen nun alle Anwesenden gemeinsam. Sie wurde begleitet durch Ausschnitte aus dem Deuteronomium und dem 1. und 2. Buch der Könige sowie durch drei Psalmen und einen Text aus der Mischna Bikurim. Die Texte beschreiben, dass «alles, was männlich ist», dreimal im Jahr vor Gott an der von ihm gewählten Stätte erscheinen soll, um das Fest der ungesäuerten Brote [Pessach], das Wochenfest [Schawu’ot] und das Laubhüttenfest [Sukkot] zu feiern. Man soll nicht mit leeren Händen erscheinen, sondern jeder soll geben, was er kann. Dann wird erzählt, wie Salomo und mit ihm ganz Israel 14 Tage lang Pessach feierte und wie glücklich das Volk nach dem Fest war. Vor den Toren Jerusalems singen Pilger ein Wallfahrtslied und wünschen der Stadt Frieden und Sicherheit. In den folgenden Texten geloben die Singenden, dass sie Gottes Diener sind und dass sie in Jerusalem ihr Gelübde vor Gottes Volk erfüllen, Gott ein Opfer des Dankes darbringen und seinen Namen anrufen wollen, und sie preisen Gott. Anschliessend wird beschrieben, wie und mit welchen Gaben die Menschen nach Jerusalem ziehen, wie sie empfangen und zum Tempelberg geleitet werden.
Nun erzählte Omer Nevo vom spirituellen Aspekt der Religion und davon, dass Israel zwar nur ein Land ist, dass dort aber etwas mit den Pilgernden passiert und es das jüdische Volk deshalb immer wieder dorthin zieht. Das treffe auch auf Menschen zu, die vor langer Zeit Israel verlassen hätten. Auch sie würden sich nach einer spirituellen Reise nach Jerusalem sehnen, denn es gebe eben nicht nur die Reise nach Israel oder die Einwanderung dorthin, sondern auch den umgekehrten Weg der Auswanderung.
Auf unserer gedanklichen Reise waren wir nun also in Jerusalem angekommen, aber jetzt passiert dort etwas. Wie der nächste Text, ein Ausschnitt aus dem Buch Jesaia, erzählt, wird der Tempel zerstört und Jerusalem wird verwüstet, oder in den Worten von Omer Nevo: Alles, was man sich gewünscht hat, ist weg, man muss sich ein neues Zuhause suchen und Jerusalem verlassen, und im Herzen beginnt man die Stadt und das Land zu vermissen. So beschreibt auch der folgende Psalm, wie die Menschen an den Strömen Babels um Zion (ein anderer Name für Jerusalem) weinen.
Omer Nevo erläuterte, dass trotz der Zerstörung des Tempels weiterhin die Pflicht bestand, nach Jerusalem zu gehen, aber dies war nur noch in Gedanken möglich, und dazu brauchte man Gebete und Texte. Deshalb sei die Thora geschrieben worden. Wenn man sie öffnet und daraus liest, macht man die Alija, die Wallfahrt nach Jerusalem, und erfüllt seine Pflicht (Mizwa), dort zu sein. Dazu sang er einen Text aus dem Gebetbuch, der den auf immer und ewig regierenden Herrn preist und um Kraft und Frieden für sein Volk bittet.
Omer Nevo erklärte weiter, dass man nicht unbedingt einen Tempel braucht, um zu beten; jeder ist selbst ein Tempel, deshalb kann man auch in die Natur gehen, um die Mizwa zu erfüllen, und so sang er anschliessend den «Gesang der Gräser», in dem unter anderem beschrieben wird, dass aus dem Gesang der Gräser die Melodie des Hirten und der Gesang des Herzens entsteht, und wie schön es ist, den Gesang der Gräser zu hören, unter ihnen zu beten und Gott zu dienen.
Abschliessend folgte ein weiterer Text aus dem Gebetbuch, der auf die Wichtigkeit der Weisung Gottes hinweist, auf die Stärke, das Glück und den Frieden, die entstehen können, wenn man ihren Wegen folgt, und in dem darum gebetet wird, zu Gott zurückgeführt zu werden.
Nach dem Vortrag von Omer Nevo, der mit seinem Gesang und dem Einbezug der Gäste das Publikum sehr berührte, gab es noch die Möglichkeit, Fragen zu stellen. Die Gäste wollten beispielsweise wissen, was es für einen Zusammenhang zwischen Texten und Melodien gibt, wie die Texte gelesen oder rezitiert werden sollten, was man zu Zeiten des Tempels opferte, wie der exakte Tag für die Wallfahrtsfeste berechnet wird und was diese Feste genau bedeuten oder wie gross der Anteil der liberalen Jüdinnen und Juden in Israel ist. Zum Abschluss des Abends wurden Getränke und Snacks offeriert, und viele Gäste nahmen das Angebot gerne an, noch weiter mit Omer Nevo oder untereinander das Thema des Abends zu vertiefen.