Bündnis mit Gott
Erlebnisbericht zur Veranstaltung «Jüdische Traditionen und Gesetze» aus der Reihe «Lebensanfang» in der Jüdischen Liberalen Gemeinde in Zürich
3. Oktober 2018, Deniz Yüksel, Delegierte der Fachstelle Integration des Kantons Zürich.
«Weil es so geschrieben steht.» Mit diesem Motto steigt Rabbiner Ruven Bar Ephraïm am 3. Oktober 2018 humorvoll in seine Rede ein. Dies sei die Antwort auf sämtliche Fragen, wenn es um jüdische Rituale geht.
Der Rabbiner steht vorne im Vortrags- und Andachtsraum der Jüdischen Liberalen Gemeinde (JLG) an der Hallwylstrasse. Hinter ihm ein Vorhang, der zum Farbkonzept des Raumes passt. Beige und rosa. Die Kommission für Ästhetik habe die Farben entschieden, erklärt er später. Auf dem Vorhang steht auf Hebräisch: «Liebe deinen Nächsten», ein Gebot aus der Thora. Hinter dem Vorhang, den er kurz öffnet, lagern prächtige Thorarollen.
Wie in allen Religionen ist der Anfang des Lebens im Judentum ein wichtiger Moment. So berichtet der Rabbiner Bar Ephraïm, dass im Judentum ein neugeborener Junge an seinem achten Lebenstag beschnitten wird. Die Beschneidung der Vorhaut des männlichen Geschlechtsorgans sei eines der jüdischen Gebote, das selbst von den meisten säkularen jüdischen Familien befolgt werde, da es als wichtiger Bestandteil jüdischer Identität angesehen wird. Das Ritual, hebräisch Brit Mila, das mit «Bündnis mit Gott» übersetzt wird, geht zurück auf die jüdische Überlieferung, nach der Gott mit Abraham und seiner Familie diesen Bund einging.
Die Zeremonie erklärt uns der Rabbiner mithilfe eines Dokumentauszugs mit hebräischen und deutschen Anweisungen. Die Beschneidung sei früher eine einfache rituelle Handlung gewesen, nicht viel mehr als die «Operation» selbst. Heute habe sich hingegen eine richtige Zeremonie inklusive Feierlichkeiten daraus entwickelt.
Das Publikum von etwa 30 Personen ist rege interessiert. Einzelne teilen ihre Erfahrungen mit jüdischen Ritualen. Ob es denn schmerzhaft sei oder eine Betäubung für das Baby gebe, wollen andere wissen. Rituell vorgesehen ist, dass das Baby einen Tropfen Wein auf den Schnuller bekommt. Eine lokale Betäubungsspritze, argumentiert der Rabbi, empfinde er hingegen als fast schmerzhafter als die Beschneidung selbst.
Eine historische Entwicklung gibt es nicht nur beim Zeremoniellen. Gesellschaftspolitische Diskurse haben interessanterweise ebenfalls Einfluss auf die Entwicklung genommen: Der Rabbiner betont nämlich, dass im Zuge der neueren Geschichte und der Frauenbewegungen in den 1960er/70er Jahren Forderungen laut wurden hinsichtlich der Gleichberechtigung der Geschlechter bei solch einer Zeremonie des Lebensbeginns. So hat die JLG, die nicht nur in Zürich, sondern international vertreten ist, eine parallele und bis heute gültige Zeremonie für das neu geborene Mädchen entwickelt, an deren Ausgestaltung der Rabbiner Bar Ephraïm massgeblich beteiligt war. Ein wichtiger Unterschied liege darin, dass das Mädchen im Gegensatz zum Jungen körperlich unversehrt bleibe und nur mit Wasser gewaschen werde. Zentral sei zudem die Art des Bündnisses: Während der Junge mit der Beschneidung ein Bündnis mit Gott eingehe, ist für das Mädchen ein Bündnis mit dem Volke Israels vorgesehen.
Diese Entwicklung zeigt auf, dass auch dort, wo etwas geschrieben steht, ein gewisses Entwicklungspotential besteht. Damit widerlegte der Rabbiner – punktuell zumindest – die humorvoll gemeinte These seines Einstiegs.
Dass alle Gäste bei ihrer Ankunft vor dem Eingang einem Sicherheitscheck unterzogen wurden, hatte ich nach dem Vortrag beinahe vergessen. Die grosse doppelte Glastür erinnert mich beim Hinausgehen zwar wieder daran. Aber ich schmunzle auch schnell wieder beim Gedanken an den Witz, den der Rabbiner noch zum «Lebensbeginn» machte:
«Wann beginnt Ihrer Meinung nach das Leben im Judentum? Gemäss einem jüdischen Sprichwort beginnt das Leben, wenn die Kinder aus dem Haus sind…»