Fasten des 9. Av
Erlebnisbericht zur Veranstaltung «Fasten des 9. Av. Juden gedenken der Zerstörung des Jerusalemer Tempels» aus der Reihe «Feste feiern» in der Israelitischen Cultusgemeinde Zürich.
12. Juli 2012, Andrea Müller
Der neunte Tag im Monat Av (hebr. tisch’a beAv) beendet die dreiwöchige Trauerzeit um die zweifache Tempelzerstörung in Jerusalem. In den Synagogen ertönen an diesem Tag Klagelieder, man betet auf einer niedrigen Bank, das Licht ist gedimmt, der Vorhang und die Decke beim Toraschrein und beim Pult werden entfernt. Die Gemeinde fastet, die Schuhe – als Zeichen von Reichtum geltend – werden ausgezogen. Es herrscht Trauerstimmung.
Die Bedeutung dieses Fast- und Trauertages sowie die Bedeutung der Trauer im Judentum allgemein, waren Thema der Beiträge von Ruth Gellis, Projektbeauftragte der Israelitischen Cultusgemeinde Zürich (ICZ) für den interreligiösen Dialog, und Gemeinderabbiner Marcel Ebel anlässlich der Festefeiern-Veranstaltung vom 12. Juli 2012 in der Synagoge ICZ in Zürich.
Die rund 80 Personen hörten gespannt den Ausführungen der beiden wortgewandten Rednern zu. Zunächst schilderte Ruth Gellis die talmudische Erzählung von Kamza und Bar-Kamza, welche als eine mögliche Erklärung für die Zerstörung des Zweiten Tempels in Jerusalem gilt. Marcel Ebel holte etwas weiter aus und brachte Gedanken zur Trauer im Judentum im Allgemeinen ein. Er begann mit einer breiten Perspektive auf alle Religionen und betonte, dass der Kreis von Trauer, Trost und der anschliessenden Rückkehr ins «richtige Leben» nach einem schweren Verlust bei allen Menschen der Gleiche sei und schlug damit die Brücke zur Thematik des Abends. Zur Veranschaulichung des Gegensatzes zwischen traurigen und fröhlichen Zeiten, spielten Ruth Gellis und Marcel Ebel Musik ein. Zu hören waren einerseits Klagelieder, andererseits auch fröhliche, oder wie sie Ruth Gellis selbst bezeichnete, «lüpfige» Melodien. Das Wechselspiel von Trauerzeit und Normalität wurde in allen Aspekten der Veranstaltung betont und mit Beispielen aus rituellen Praktiken des Judentums erklärend geschildert.
Anschliessend bot sich dem Publikum die Möglichkeit, Fragen zu stellen. Nachgefragt wurde unter anderem, wie wahrscheinlich es sei, dass in naher oder ferner Zukunft ein dritter Jerusalemer Tempel aufgebaut würde. Der Rabbiner erklärte, nicht die rationale Wahrscheinlichkeit, sondern der feste Glauben daran, dass es geschehen werde, sei wesentlich. Seine Antwort umrahmte er mit einer bekannten Geschichte:
Ein Rabbi brachte einem in Probleme geratenen Kloster die Weisung, der Messias sei unter ihnen, worauf die Mönche ganz verwirrt waren und sich fragten, welcher von ihnen nun denn der Messias sein könnte. Weil alle vermuteten, der andere könnte es eventuell sein, begegneten sie sich plötzlich mit grosser Aufrichtigkeit, lebten friedlich zusammen und es breitete sich eine Warmherzigkeit aus, welche im ganzen Tal zu spüren war. Daraufhin wurde das Kloster wieder beliebt und viel besucht, denn die Leute waren vom Leben der Mönche sehr beeindruckt.
Weiter stellte das Publikum konkrete Fragen zu religiösen Praktiken am 9. Av. Diese wurden von den beiden Veranstaltern mit Humor und unter Einbezug persönlicher Erfahrungen beantwortet. Rabbiner Ebel meinte zum Schluss mit Augenzwinkern, dass das Fasten am 9. Av natürlich nicht bei allen so beliebt sei, besonders bei Leuten mit tiefem Blutdruck. Und ergänzend fügte Ruth Gellis hinzu, dass sie persönlich den 9. Av hauptsächlich «in der Horizontalen» verbringen müsse.
Es waren solche Geschichten, persönliche Anekdoten und die rhetorischen Fertigkeiten der Redner, welche diesen Anlass zu etwas ganz Besonderem machten. Das Publikum bedankte sich mit einem grossen Applaus.