Hochzeitsrituale im tibetischen Buddhismus
Erlebnisbericht zur Veranstaltung «Vermählte und ihre Beschützer» aus der Reihe «Hochzeiten» im Songtsen House in Zürich, 1. Oktober 2020
10. Oktober 2020, Cemile Ivedi, Mitarbeiterin der Geschäftsstelle des Zürcher Forums der Religionen
«Die Frau hat die Schlüssel in der Hand. Eine tibetische Frau ist sehr emanzipiert», betont Dechen Kaning, die am ausgebuchten Anlass im Songtsen House erzählt, dass Mädchen in Tibet traditionellerweise im Alter von ungefähr 16 Jahren versprochen werden und meistens ihren zukünftigen Ehemann nicht kennen. Die Eltern bestimmen schon früh, mit wen sie ihr Kind vermählen werden. Dabei geht es vor allem darum, einen wirtschaftlichen und sozialen Status zu erreichen, indem Familien durch Vermählung der Kinder miteinander verbunden werden.
In einer Grossfamilie mit mehreren Söhnen suchen die Eltern eine Frau für den ältesten Sohn, der bei der Heirat zum Familienoberhaupt wird. Die Aufgabe der Ehefrau besteht darin, dass sie auch die anderen Familienmitglieder bewirtet und bei Bedarf ihre Schwiegereltern pflegt. Mit ihr steht und fällt die Haushaltsführung. Eine tibetische Frau heiratet nicht einen Mann, sondern gleich eine ganze Familie.
Bevor die Heirat vermittelt wird, wird in einem buddhistischen Kloster ein Horoskop erstellt, um sicher zu sein, dass das zukünftige Paar zusammenpasst. Eine Verkuppelung läuft so von statten, dass ein Vermittler von der Seite des zukünftigen Bräutigams mit Geschenken zum Haus der zukünftigen Braut geht, um im Namen der Familie um die Hand der Tochter anzuhalten. «Meistens wird dies vorher abgesprochen», erklärt Dechen Kaning und fügt schmunzelnd hinzu: «…um Überraschungen zu vermeiden.» Können sich die Familien einigen, wird der zukünftigen Braut mitgeteilt, dass sie dieser Familie zugesprochen wurde. Widerspricht die Frau nicht explizit, bedeutet dies, dass sie der bevorstehenden Vermählung zustimmt.
Die Hochzeitszeremonien fangen mitten in der Nacht an und können einige Stunden dauern. Bereits um ungefähr drei Uhr nachts trifft der Bräutigam samt Familie im Haus der Braut ein. Bei den Göttern wird um Erlaubnis darum gebeten, die Braut in ein anderes Haus zu bringen. Nun wird die Braut auf einem Pferd reitend zum Haus des Bräutigams gebracht, begleitet von den älteren Familienmitgliedern. Dort werden sie mit einer Willkommensgeste empfangen. Im Eingang der reich geschmückten Jurte sind mit Salz, Holz, Wein, Butter, Tee und anderen Dingen gefüllte Schalen aufgestellt, um anzudeuten, dass es den Gästen gut gehen wird. Dem Hochzeitspaar wird ein Hada, ein Schal aus weisser Seide überreicht, der Glück bringen möge. Das Brautpaar und die Gäste, die reich verzierte tibetische volkstümliche Kleidungsstücke tragen, feiern die Vermählung über mehrere Tage hinweg. An einem öffentlichen Altar wird um Schutz für die Neuvermählten gebeten. Bis zu einer Woche können diese Feierlichkeiten dauern und bezwecken, dass die Eheschliessung publik gemacht wird. Traditionellerweise symbolisiert nicht ein Ring, dass eine Frau verheiratet ist, sondern eine farbenprächtige Schürze, die über dem Kleid getragen wird und bis unter die Knie reicht. Heutzutage werden diese Schürzen jedoch auch von unverheirateten Frauen und manchmal auch von Kindern getragen.
Früher war der Mann oft monatelang auf Handelsreisen, um den Lebensunterhalt der Familie zu bestreiten. In dieser Situation war es möglich, dass seine Brüder mit seiner Frau ebenfalls Kinder zeugten, obwohl sie nicht zeremoniell verheiratet waren. Dadurch war in ländlichen Gebieten Polyandrie nichts Aussergewöhnliches. Starb der Ehemann, wurde die Frau ihrem Schwager übergeben, um ihre Versorgung zu sichern. Eine zeremonielle Vermählung gilt bis zum Lebensende, eine Scheidung ist nicht möglich. Eine traditionelle tibetische Heirat findet nicht aus Liebe statt. «Die Liebe zwischen dem Ehepaar wächst erst mit der Zeit», erklärt Dechen Kaning.
Heute werden weniger abgesprochene Ehen geschlossen. Dennoch haben die Eltern ein Mitspracherecht, und das Horoskop ist immer noch von Bedeutung. Dechen Kaning, die sich seit Jahren im Vorstand des Songtsen House engagiert, erzählt, dass in der Schweiz die wichtigsten Zeremonien zuhause abgehalten werden, meist in einer verkürzten Form. Da gemäss buddhistischer Ansicht eine Heirat etwas Weltliches ist, werden diese Zeremonien nicht von Mönchen durchgeführt, sondern von Personen, die die Familien gut kennen.
Mit einem kurzen Film gewährt Kaning Einblick in eine tibetische Hochzeit ihrer Verwandtschaft, die in Kanada stattfand. Im Film wird getanzt, gesungen, gegessen und getrunken – eine fröhliche, einladende Feier.
Zum Schluss werden die Teilnehmerinnen und Teilnehmer mit Chai und Corona-konform abgepackten tibetischen Süssigkeiten verabschiedet.